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Para Biathletin Anja Wicker reist mit Rückenwind zu ihrer sechsten WM-Teilnahme im schwedischen Östersund: Die 28-Jährige ist die Welt-Para-Sportlerin des Monats Januar – eine verdiente Auszeichnung nach zwei Jahren Krisenstimmung

Anja Wicker sitzend auf dem Bi-Ski | Foto: Martin HaagZehn Tage lang hat sich die deutsche Para Ski nordisch-Nationalmannschaft Ende Februar und Anfang März in Ridnaun auf die anstehende Premiere einer Para Biathlon-Weltmeisterschaft vorbereitet. Anja Wicker hätte nichts dagegen, aus dem Ort des finalen Trainingslagers ein gutes Omen für die Wettkämpfe vom 12. bis 15. März im schwedischen Östersund abzuleiten. Der Geist von Ridnaun trug sie fast auf den Tag genau vor sechs Jahren zum größten Erfolg ihrer Karriere: Gold bei den Paralympics 2014 von Sotschi.

Der Triumph im Biathlon über die zehn Kilometer in der sitzenden Konkurrenz kam damals förmlich aus dem Nichts – „auch wenn ich mich schon in Ridnaun gut gefühlt hatte“, wie sie noch genau weiß. Für die Athletin vom MTV Stuttgart war es der Startschuss in bemerkenswerte drei Jahre, in denen sie praktisch alles gewann, was es im Para Biathlon zu gewinnen gibt: Zahlreiche Weltcup-Rennen, den Gesamt-Weltcup der Jahre 2015 und 2017 und bei der Heim-Weltmeisterschaft 2017 in Finsterau (Bayerischer Wald) auch den Titel über 12,5 Kilometer.

Vor ihrer bereits sechsten Teilnahme an einer Weltmeisterschaft könnte sich Wicker also theoretisch entspannt zurücklehnen. Sie muss niemandem mehr etwas beweisen. Eigentlich. Denn ganz so stimmt das nicht. Es gibt da jemanden, dem will sie etwas beweisen, dem will sie zeigen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehört, dass sie noch immer brennt und noch immer zur Leistung fähig ist. Diese Person ist sie selbst.

Der Körper spielte nicht mehr mit

Ihr Ansporn hat viel mit den Wintern der Jahre 2018 und 2019 zu tun, in denen für sie mit einem Mal nichts mehr zusammenlief. „Ich konnte nicht mehr richtig trainieren, konnte mich nicht belasten. Ich wusste nicht, was mit mir los war“, erinnert sie sich. Als endlich klar war, dass gesundheitliche Probleme die Ursache für ihren Leistungseinbruch waren, waren eineinhalb Jahre ins Land gegangen. Vor der WM 2019 in Prince George (Kanada) wähnte sich Anja Wicker bereits wieder auf dem Weg zurück, da setzte sie ein Überlastungssyndrom im Arm matt. Sie hatte es übertrieben mit dem Trainingsfleiß. „Ich musste erst wieder mühsam lernen, auf meinen Körper zu hören und ihm zu vertrauen“, sagt sie. Erst im Mai 2019 war es so weit. „Da war ich wieder ich.“

Weil in der Zwischenzeit vor allem die US-amerikanische Konkurrenz mit Oksana Masters und Kendall Gretsch einen unwahrscheinlichen Leistungssprung gemacht und frühere Probleme am Schießstand in den Griff bekommen hatte, war der Abstand zur Weltspitze für Anja Wicker plötzlich gewaltig. Anpassungen am Faktorsystem, das im Para Sport Leistungsgerechtigkeit zwischen Sportlern mit unterschiedlichen Graden der Beeinträchtigung herstellen soll, fielen ebenfalls zu ihrem Nachteil aus.

Um dem entgegenzuwirken, entschied sie gemeinsam mit dem deutschen Betreuerstab um Bundestrainer Ralf Rombach, ihre Technik umzustellen. Das Vorhaben: Wicker sollte die Frequenz ihres Stockeinsatzes deutlich erhöhen. Die Länge ihrer Stöcke hat sie in den Sommermonaten 2019 kontinuierlich um zwei Zentimeter gekürzt. Parallel arbeitete sie an ihrer Kraftausdauer und quälte sich mit Skirollern Alpenpässe hinauf.

Weltcup-Sieg vor heimischem Publikum

Die Stunde der Wahrheit schlug im Dezember 2019 beim Weltcup-Auftakt in Lillehammer – und Wicker beendete die Saisonpremiere als Achte des Langlaufs über die Kurzdistanz mit einem positiven Gefühl. „Ich konnte mich voll belasten und habe mein Tempo durchgehalten“, berichtete sie. Das positive Gefühl indes sollte sich noch steigern. Einen Monat später beim Heim-Weltcup im sächsischen Altenberg heimste sie zuerst einen zweiten Platz und tags darauf sogar einen Sieg über die Sprintdistanz ein. „Mir ist ein Riesenstein vom Herzen gefallen. Ich habe schon daran gezweifelt, jemals wieder auf dem Podium zu sehen.“

Der Lohn: Das Internationale Paralympische Komitee nominierte Wicker für die Wahl zur Para Sportlerin des Monats Januar und die Deutsche stach ihre vier Mitkonkurrenten aus. 54 Prozent stimmten für sie – ein Erdrutschsieg. „Ich habe gar nicht damit gerechnet. Aber man merkt durch so etwas, dass man im Aufwind ist und andere das auch wahrnehmen“, sagt Wicker.

Den Rückenwind will sie mitnehmen in die drei WM-Rennen in Östersund. Eigentlich liegen ihr die Strecken dort nicht – zu viele Kurven, zu viel Zickzack. Doch die Organisatoren haben Änderungen am Zuschnitt im Vergleich zum Weltcup 2019 vorgenommen. Anja Wicker begrüßt das. „Wenn die Bedingungen passen, will ich ums Podium mitlaufen“, sagt sie. Konkurrenz kommt von Masters und Gretsch, aus dem eigenen Team durch Andrea Eskau (USC Magdeburg) sowie durch die qualitativ und quantitativ starke russische Mannschaft, die erstmals seit 2015 wieder bei einem Großereignis dabei ist.

Große Sucht nach dem Podium

Anja Wicker beurteilt die Rückkehr des mehrere Jahre lang gesperrten Teams mit gemischten Gefühlen, findet aber: Eine höhere Konkurrenz mache den Wettbewerb interessanter. „Ich möchte mich mit ihnen messen.“ Wer ihr zuhört, spürt dieses Kribbeln, das sie auch vor ihrer sechsten WM noch ereilt. „Auch wenn das für mich schon so etwas wie Routine ist: Aufgeregt bin ich trotzdem. Wer sich als Sportler keinen Druck mehr macht, sollte besser aufhören.“

Für sie kommt das noch nicht in Frage. 2022 finden in Peking die Paralympischen Spiele statt. Mindestens bis dahin will sie dabei bleiben und auch bei ihren dritten Paralympics in Schlagdistanz zur Weltspitze sein. Ihr Sportmanagement-Studium an der SRH Fernhochschule Riedlingen plant sie im Frühjahr 2022 ebenfalls zu beenden. Heißt: Es wird noch ein paar Gelegenheiten für sie geben, an alte Erfolge anzuknüpfen. „Dieses Gefühl auf dem Podium, das macht süchtig“, sagt Anja Wicker, „das will man immer wieder erleben.“

 

 

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