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Para Leichtathletik-WM: Irmgard Bensusan ist bereit für das Duell mit der Niederländerin Marlene van Gansewinkel, betont aber auch: „Es zählt nächstes Jahr in Tokio“

Irmgard Bensusan hält eine Fahne hochIrmgard Bensusan hat diese Saison die Weltrekorde über 100 und 200 Meter in ihrer Startklasse verbessert, reist aber dennoch nicht als Favoritin zur Para Leichtathletik-WM nach Dubai. Mit der Niederländerin Marlene van Gansewinkel wird sie sich einen packenden Zweikampf liefern.

Bevor Irmgard Bensusan am Samstagmittag zur Para Leichtathletik-WM nach Dubai fliegt, drehen sich ihre Gedanken vor allem um eins: das Finale der Rugby-Weltmeisterschaft in Japan. „Ich hoffe, dass morgens das WLAN im Zug zum Flughafen hält“, sagt die gebürtige Südafrikanerin, die ihren „Springboks“ gegen England zujubeln möchte: „Rugby ist unser Sport in Südafrika. Es ist knallhart, sie laufen hier rein, sie laufen da rein, stehen auf und machen weiter, es gibt kein Drama. Damit bin ich aufgewachsen.“ Fußball als Nationalsport der Deutschen langweilt sie hingegen, „es geht mir auf den Keks, kann man sagen.“

Rugby ist der einzige Sport, der im Leben von Irmgard Bensusan außer der Leichtathletik einen Platz hat. Ihre Brüder haben es früher gespielt, sie auch, allerdings „nur Touch-Rugby, also ohne Körperkontakt“. Rugby ist Südafrika und Südafrika ist Heimat. „Wenn ich an meine Heimat denke, denke ich an meine Familie, Afrikaans, Bushveld, Gewitter, den Geruch von Regen auf der Straße, an Kinder, die barfuß laufen, an Rusks mit Kaffee an einem Samstagmorgen mit meiner Familie“, hat sie einmal gesagt, denn ihr Herz ist entgegen mancher Medienberichte weiter südafrikanisch – auch wenn ihre Mentalität nach fünf Jahren in Leverkusen deutsch ist.

Mit 18 Jahren verletzte sich Irmgard Bensusan im Hürdensprint schwer

Pünktlichkeit, harte Arbeit, alles geben für das, wovon man träumt: Das macht die 28-Jährige aus. Und die Leichtathletik. „Die liebe ich einfach“, sagt Bensusan, die im südafrikanischen Pretoria geboren wurde und schon mit drei Jahren erstmals auf einer Tartanbahn unterwegs war. In der Jugend wurde sie südafrikanische Meisterin im Hürdensprint und startete auch international für ihr Geburtsland – bis sie sich schwer verletzte. Bei den nationalen Meisterschaften blieb die damals 18-Jährige an einer Hürde hängen: „Ich habe mein Bein angeschaut und konnte nur noch schreien.“ Die Diagnose: Drop-Foot, der rechte Unterschenkel ist teilweise gelähmt mit einem Nervenschaden. Ihren Fuß kann sie nicht mehr aus eigener Kraft nach oben ziehen, „Schluffi“ nennt sie ihn deswegen oft. Doch bis sie so humorvoll damit umgehen konnte, war es ein langer Weg.

Sechs Monate nach dem Sturz sagte ihr ein Arzt, dass sie nie wieder sprinten könne. „Ich habe angefangen zu weinen und zu meiner Mutter gesagt: Wohin jetzt?“ Ihre Mutter, die aus Hannover kommt und vor Irmgards Geburt nach Südafrika ausgewandert war, erzählt ihr vom Behindertensport. Doch in Südafrika wird ihre Behinderung nicht anerkannt, sie wird nicht klassifiziert. Da Bensusan auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat, kontaktiert ihre Mutter den TSV Bayer Leverkusen und dessen Para Sport-Geschäftsführer Jörg Frischmann, der sich der Sache annimmt und ärztliche Gutachten schicken lässt.

2014 wurde Bensusan schließlich doch klassifiziert, „ironischerweise von der Frau, die in Südafrika gesagt hat, dass ich keine Behinderung hätte“. Egal wie langsam oder schnell sie rennen würde, ihre Motivation war zurück. „Was Herr Frischman“, wie Bensusan Frischmann mit ihrem leicht englischen Akzent oft nennt, „und der Verein für mich gemacht haben, kann ich nicht in Worte fassen“.

Auf drei Mal Silber in Rio 2016 folgte ein Jahr später der WM-Titel

Bensusan zog vor den Paralympics in Rio 2016 nach Deutschland, wohnte zunächst bei Frischmanns Familie zuhause und fand später selbst eine Wohnung direkt am Trainingsgelände. Ihre Konkurrentinnen, nahezu alle mit Prothesen, beäugen sie misstrauisch. „Ich habe einen Fuß, der nicht mehr funktioniert“, hat Bensusan einmal gesagt. Doch während ihre Gegnerinnen dies als Vorteil empfinden, sagt Frischmann, dass Bensusan funktionell deutlich eingeschränkter sei.

„Tante Irmie“, wie ihre Teamkollegen sie nennen, arbeitete hart an ihrem Ziel, bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro Gold zu holen. Am Ende reiste sie mit drei Mal Silber über 100, 200 und 400 Meter ab, über 100 Meter verpasste sie den Sieg nur um 0,02 Sekunden. „Es war echt knapp, aber ob einen Meter oder 0,02 Sekunden ist am Ende auch egal“, sagte Bensusan und fügte hinzu: „Drei Mal Silber ist echt eine super Bilanz.“ Doch wer sie kennt, weiß, dass sie lieber einmal Gold gehabt hätte.

In London bei der WM 2017 war es dann soweit: Über 400 Meter wurde sie Weltmeisterin und blieb im Ziel minutenlang mit dem Gesicht zum Boden liegen. Doch ihre einstige Paradedisziplin wurde danach aus dem Wettkampfprogramm gestrichen, also konzentrierte sie sich auf die kürzeren Distanzen. Bei der Heim-EM 2018 in Berlin musste sie sich der einseitig unterschenkelamputierten Niederländerin Marlene van Gansewinkel geschlagen geben und wurde danach emotional: „Gegen Prothesen habe ich keine Chance.“

Mehrere Weltrekorde in 2019: „Sie ist unfassbar stabil geworden“

Doch Bensusan hat nun bei der WM die Chance auf eine Revanche. „Sie ist unfassbar stabil geworden auf einem höheren Niveau als in der Vorsaison“, sagt Bundestrainerin Marion Peters. Mit gleich drei Mal 12,72 Sekunden über 100 Meter und 26,15 Sekunden über 200 Meter knackte sie in dieser Saison die Weltrekorde in ihrer Startklasse, für das Duell mit der Niederländerin ist alles bereit – und doch will Bensusan Dubai nicht zu viel Bedeutung zuschreiben: „Es zählt nächstes Jahr in Tokio.“

Deshalb ist ihre Familie bei der WM auch nicht vor Ort, sie sparen für die Paralympics, um sie vor Ort zu unterstützen. Denn auch wenn Bensusan, die als Wirtschaftsprüferin Teilzeit arbeitet und finanziell durch das Bundesministerium der Verteidigung unterstützt wird, sich in Deutschland mittlerweile wohl fühlt – wenn sie das Heimweh packt, hat sie in Rücksprache mit Trainer Karl-Heinz Düe immer das Recht, nach Südafrika zu fliegen.

Was ihr Ziel für die WM ist, bleibt wie immer ihr Geheimnis. Solange sie alles gibt, kann sie mit sich im Reinen sein. „Ich bin froh, dass es mir passiert ist“, sagt sie heute über den Unfall vor zehn Jahren: „Weil ich auf meine Rio-Medaillen stolzer bin, als ich je auf eine olympische Medaille sein hätte können, da der Weg dorthin so hart war.“

Und wenn sie im kommenden Jahr Paralympics-Gold gewinnen würde, könnte sie die Geschichte aus ihrer Instagram-Beschreibung fortschreiben: Die Geschichte vom „tollpatschigen Mädchen, das über eine Hürde fiel und zur Para Athletin wurde“.

Quelle: Nico Feißt

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