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Yannis Fischer und „Vorbild“ Niko Kappel starten bei den Paralympics in Tokio mit unterschiedlichen Voraussetzungen: Der eine könnte überraschen, der andere möchte trotz schwieriger Saison wieder eine Medaille

Niko Kappel, Peter Salzer, Yannis Fischer | Foto: DBSNiko Kappel und Trainer Peter Salzer hoffen nach einer durchwachsenen Saison, dass sich bei den Paralympics in Tokio doch noch alles in Richtung Gold fügt – und es Nachwuchstalent Yannis Fischer wie bei der EM gelingt, alle zu überraschen. Ein Kugelstoß-Trio auf dem Weg von Stuttgart nach Tokio.

Wenn alles optimal läuft, wird Peter Salzer zwischen dem 29. und 30. August binnen weniger als 24 Stunden zwei Mal jubeln dürfen. Salzer ist der Erfolgstrainer von Kugelstoß-Paralympics-Sieger Niko Kappel, der nach dem Sieg in Rio den WM-Titel 2017 sowie Silber bei der EM 2018 und der WM 2019 folgen ließ. Bei den Europameisterschaften in diesem Jahr im polnischen Bydgoszcz gab es zwar „nur“ Bronze, aber dafür gleich zweifach aus Salzers Sicht.

Denn der 63-Jährige trainiert am Bundesstützpunkt Leichtathletik Stuttgart noch einen zweiten kleinwüchsigen Kugelstoßer, ein großes Talent – ähnlich wie Kappel vor seinen ersten Paralympics in Rio damals: Yannis Fischer, der bei seinem ersten Einsatz im Nationaltrikot überraschend ebenfalls EM-Bronze zur Erfolgsbilanz beisteuerte. Und weil der 19-Jährige seinen Wettkampf am 29. August um 10.57 Uhr japanischer Zeit hat und Kappel am 30. August um 9.57 Uhr, könnte Salzer im besten Fall doppelte Freude winken.

Salzer: „Kann mich darauf verlassen, dass sie performen“

Die zweifache Medaillenchance gibt es, weil Kappel größer ist als Fischer und beide in unterschiedlichen Klassen stoßen: Kappel in der F41, Fischer in der F40. Bei beiden ist die Konkurrenz beträchtlich und die Wettkämpfe versprechen große Spannung. Gleich fünf Athleten haben in Kappels Startklasse Siegchancen. Der Weltrekord wurde in den vergangenen drei Jahren von vier verschiedenen Athleten verbessert, zuletzt vom usbekischen Weltmeister Bobirjon Omonov mit 14,31 Metern und damit einem Zentimeter mehr als Kappel.

Bei Fischer sind es mindestens sechs Athleten, die über zehn Meter stoßen können. Eine Weite, die er selbst im vergangenen Jahr beim ISTAF in Berlin erstmals stieß. In Leverkusen verbesserte er sich Ende Juni diesen Jahres auf 10,21 Meter. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, sagt Trainer Salzer, der sich in diesen starken Teilnehmerfeldern aber keine Sorgen um seine Athleten macht: „Beide sind exzellente Wettkämpfer und ich kann mich darauf verlassen, dass sie performen.“

Bei Kappel werden die Medaillenplätze nach dem Saisonverlauf und angesichts der starken Konkurrenz alles andere als ein Selbstläufer. „Ich bin jetzt deutlich zuversichtlicher als noch vor drei Wochen“, sagt der 26-Jährige, der erst überhaupt nicht in die Saison fand und dann nach der EM, bei der er mit „nur“ 13,36 Metern Bronze gewann, verletzungsbedingt sechs Wochen gar nichts mit der Kugel machen konnte. „Bisher war einfach nicht mehr drin, das sind die harten Fakten. Aber immerhin habe ich mein Krafttraining voll durchziehen können, da musste ich nicht pausieren“, sagt Kappel, der mit Damien Zaid seit 2019 einen eigenen Athletiktrainer hat: „Das kann jetzt meine Versicherung sein, dass die Fitness stimmt – und ich es nur noch in den Ring bekommen muss.“

Kappel: „Wenn ich es mir aussuchen kann, will ich Gold“

Im Trainingslager in Kienbaum Ende Juli hat Kappel erstmals wieder an der Stoßtechnik gefeilt, am kommenden Freitag fliegt er mit der Para Leichtathletik-Mannschaft ins Vorbereitungscamp nach Shimabara. „Insgesamt werde ich auf knapp 20 Stoß-Einheiten kommen, bis es am 30. August funktionieren muss – in voller Power und auf dem höchsten Niveau. Das ist schon mit heißer Nadel gestrickt und das würde man vermutlich auch nicht in ein Lehrbuch schreiben. Aber ich arbeite hart daran, eine Medaille zu gewinnen. Und wenn ich es mir aussuchen kann, will ich natürlich Gold“, sagt Kappel und lacht – wohlwissend, dass die Paralympics sein erster Wettkampf seit der EM Anfang Juni sein werden.

Damit er für dieses Unterfangen auch vom Kopf her voll da ist, arbeitet er mit Matthias Berg als Mentalcoach zusammen. Der 27-fache paralympische Medaillengewinner im Para Ski alpin und der Para Leichtathletik, elf davon in Gold, versteht Kappels Situation als Leistungssportler. „Das tut einem extrem gut, wenn man über Dinge sprechen kann, über die man sonst mit niemandem spricht und dann noch sinnvolles Feedback bekommt“, sagt Kappel, der bisher bei jedem Großevent mit einer Medaille nach Hause fliegen durfte: „Dennoch kommt bei mir die mentale Stärke hauptsächlich dann, wenn ich weiß, dass das Training läuft und ich gut drauf bin.“

Dass die Spiele zum ursprünglichen Zeitpunkt für Kappel besser gepasst hätten, weil er in einer Wahnsinns-Form war und auch Weltrekord gestoßen hatte, ist abgehakt – eher zieht er auch daraus mittlerweile Kraft: „Das hat mir gezeigt, was drin ist und dass ich es eigentlich nur wieder so machen muss.“ Trainer Salzer unterstützt ihn darin: „Niko ist fast an seinen alten Trainingswerten dran, jetzt gilt es, in Shimabara Stabilität zu gewinnen. Ich denke, dass der Weltrekord diesen Wettkampf nicht überleben wird und man für Gold weit stoßen muss. Das wird eine ganz heiße Geschichte und mit Sicherheit nicht so einfach wie in Rio.“ Dort gewann Kappel übrigens mit einem Zentimeter Vorsprung.

Nachwuchstalent Fischer: „Niko ist mein Vorbild“

Die Leistung von Kappels Sieg damals würde heute nur noch für Platz sechs der Meldeliste reichen. Für den Athleten des VfB Stuttgart war der Paralympics-Sieg auch der Grundstein dafür, dass er nun so in der Öffentlichkeit steht und eines der Gesichter des Para Sports in Deutschland ist. „Damals war ich 21 und hatte nur den Sport, die Kumpels und an vorderster Front meine Freundin im Kopf. Was dabei vergessen wird: Meine Karriere hat schon 2015 an Professionalität gewonnen, weil ich zu Peter Salzer gekommen bin. Also hat der Sieg nicht mein Leben auf den Kopf gestellt, sondern es hat sich alles schleichend und stetig entwickelt“, sagt Kappel, der seit 2018 dank der Förderung im Paralympics-Kader und der Unterstützung seiner Partner als Vollprofi lebt und seine Erfahrungen jetzt an Fischer weitergibt.

Der 19-Jährige, der für den Stadt-Turnverein Singen startet, ist jetzt an einem ähnlichen Punkt wie Kappel 2016 und sagt: „Ich kenne Niko schon lange, er ist mein Vorbild und kann mir wertvolle Tipps geben, weil er schon so viele große Wettkämpfe mitgemacht hat.“ Während Kappel hauptsächlich von Speerwurf-Weltmeister Mathias Mester profitierte, kann Fischer jetzt auf den Erfahrungsschatz von Kappel und Salzer zurückgreifen – und nimmt das auch in Anspruch: „Er lernt viel, er ist immer interessiert und ich merke, wie sehr er sich damit beschäftigt, sich zu verbessern“, lobt Kappel den „großen Austausch im technischen Bereich. Für mich ist das immer noch ein lernender Prozess und dass da jetzt jemand dazu kommt, dem ich was mitgeben kann, ist auch für mich super. Manchmal probieren wir etwas aus und Yannis fragt mich, wie ich damit zurechtkomme“, sagt Kappel ernst und fügt dann lachend hinzu: „Vielleicht denkt er auch manchmal: Was macht der Kerl da? Aber gesagt hat er es zumindest noch nicht.“

Das würde auch nicht zu Fischers höflichem und zurückhaltenden Gemüt passen. „Der Ehrgeiz ist bei beiden gleich, aber das Temperament ist ganz unterschiedlich“, sagt Salzer über den „extrovertierten“ Kappel und den „introvertierten“ Fischer: „Yannis kann sich konzentrieren und fokussieren, ohne dass man ihm das ansieht. Und wenn es darauf ankommt, stößt er Bestweite, das finde ich so geil an ihm.“ Bei seiner Bestmarke in diesem Jahr streckte Fischer die Hände in die Höhe und verließ den Ring schweigend mit einem breiten Grinsen. „Ich hätte da laut gebrüllt“, sagt Kappel, aber der jüngere der beiden entgegnet: „Ich bin allgemein ein ruhiger Typ im Vergleich zu Niko und ich würde auch sagen, dass sich diese Ruhe in den Ring überträgt.“

Ab November wird Fischer für ein FSJ nach Stuttgart ziehen

Wenngleich Kappel laut Trainer Salzer eher ein „Kraftmensch“ ist und Fischer von der „Schnelligkeit lebt wie ein Mathias Mester früher“, gibt es doch Gemeinsamkeiten: Wie Kappel spielte Fischer früher Fußball, bei den World Dwarf Games 2017, den Weltspielen für kleinwüchsige Menschen, gewann er mit Deutschland sogar Gold. Bei der Ehrung wurde er angesprochen, ob er nicht Leichtathletik ausprobieren möchte, „und da habe ich gemerkt, dass mir Kugelstoßen Spaß macht und ich es gerne weiter machen will.“ Bei einem Wettkampf wurde er schließlich auf Salzer aufmerksam gemacht und seit einem Probetraining fährt Fischer jede Woche zwei Mal die weite Strecke von Singen nach Stuttgart. Aktuell sogar drei Mal, weil er sein Abitur hinter sich hat. „Er stößt nur hier in Stuttgart und dafür ist die Entwicklung atemberaubend“, sagt Salzer: „Als er hier ankam, hat er mit der 3-Kilo-Kugel sieben Meter gestoßen, jetzt ist er mit der 4-Kilo-Kugel bei über zehn Metern. Und wenn ich mir vorstelle, dass er mit Schienenersatzverkehr manchmal drei Stunden hierher braucht, zwei Stunden trainiert und wieder drei Stunden heimfährt, beeindruckt mich das.“

Mit der Pendelei wird ab November Schluss sein. Dann beginnt Fischer ein Freiwilliges Soziales Jahr am Olympiastützpunkt und kann so auch mehr trainieren für sein eigentliches großes Ziel: eine Medaille bei den Paralympics 2024 in Paris. Dass er für Tokio schon nominiert wurde, kam für den 19-Jährigen durchaus überraschend: „Ich bin sehr froh, überhaupt dabei zu sein, allein das ist für mich schon ein großer Erfolg. Natürlich will ich dann auch versuchen, eine Medaille zu gewinnen. Doch für mich ist es erstmal wichtig, Erfahrung zu sammeln und dann sehen wir weiter. In Paris könnte ich dann vielleicht gucken, dass ich eine Medaille hole.“

Das badisch-württembergische Kugelstoß-Duo ist sich einig, dass ihr Erfolg auch zu einem großen Teil Trainer Peter Salzer gehört: „Ich denke, dass dieses Wissen, was sich Peter für kleinwüchsige Kugelstoßer angeeignet hat, einzigartig auf der Welt ist“, sagt Kappel und Fischer ergänzt: „Er weiß, was bei Kleinwüchsigen anders ist als bei Normalwüchsigen und was man beachten muss.“ Als Fischer neu in Stuttgart ankam, erinnerte sich Salzer auch an Kappels Anfänge: „Damals wurde mir gesagt: Du musst den trainieren. Dann habe ich Niko gesehen und dachte, so viel kriegt er mit Angleiten nicht zusammen – der muss Drehen, also haben wir die Technik umgestellt. Bei Yannis ist das jetzt ähnlich, aber doch auch anders, so dass ich neu reagieren muss. Das ist das Schöne am Trainerberuf, wenn du immer wieder gefordert wirst.“ Was dabei herauskommt, wird sich Ende August in Tokio zeigen.

Alle Informationen zu den Paralympics in Tokio gibt es auf unserer Website.

Quelle: Nico Feißt

 

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