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Para Radsport: Nach vier Paralympics-Teilnahmen als Rollstuhlbasketballerin und dem Gewinn der Goldmedaille 2012 in London kämpft Annika Zeyen in Tokio erstmals als Individualsportlerin um Medaillen

Annika Zeyen | Foto: Oliver Kremer / sports.pixolli.comBronze, Silber und schließlich noch Gold: Besser hätte die Generalprobe vor den Paralympischen Spielen für Annika Zeyen nicht laufen können. Am Ende der Para Radsport-Weltmeisterschaften in Portugal hielt die 36-Jährige den kompletten Medaillensatz in ihren Händen – und war mächtig stolz.

Immerhin kehrte die Bonner Handbikerin nicht nur mit gleich drei Medaillen zurück. Nach Silber im Einzelzeitfahren und Bronze in der Mixed-Staffel wiederholte sie im Straßenrennen über 58,8 Kilometer sogar ihren Titelgewinn von vor zwei Jahren. Ein Erfolg, den Zeyen nach der coronabedingten langen Wettkampfpause gar nicht hoch genug einordnen kann. „Besser hätte es für mich nicht laufen können. Nach den vielen Monaten ohne Rennen wusste ich nicht so richtig, wo ich stehe. Die letzten großen Wettkämpfe fanden bei der WM 2019 statt. Dementsprechend war ich schon sehr nervös vorher“, berichtet Zeyen, die die wettkampffreie Zeit für sich allerdings optimal nutzte, wie sie sagt. „Ich habe viele Leistungsdiagnostiken gemacht, Techniken optimiert und gut trainiert.“

Zum Glück für sie: Als Individualsportlerin musste sie sich in der schwierigen und mit Kontaktverboten belegten Zeit nach niemandem richten, konnte sich den Umständen anpassen, das Training nach ihren Bedürfnissen gestalten. Die Handbikerin spult eisern die Einheiten ab, die ihr Trainer ihr vorgibt, mangels Möglichkeiten notfalls auch zu Hause auf der Rolle. „Das war mitunter wirklich hart“, gesteht Zeyen, die dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört. „Ich bin echt ein ehrgeiziger Mensch und war die gesamte Zeit motiviert, aber man kann nicht sagen, dass es leicht war.“

Para Athletin und gleichzeitig Mitarbeiterin beim Internationalen Paralympischen Komitee

Gerade in den Wintermonaten konnte sie eben nicht wie sonst üblich in die Sonne fliegen und bei Wärme auf der Straße trainieren. Stattdessen verbrachte die Handbikerin Stunde um Stunde auf der Rolle und schrubbte fleißig die Kilometer- und Wattvorgaben herunter. Tagein, tagaus. „Wenn es mal nicht so gut lief, habe ich an meine Konkurrenten gedacht und mir gesagt: Komm, die trainieren auch. Das hat geholfen. Und zum Glück gibt es Trainingsplattformen wie Zwift“, fügt Zeyen schmunzelnd an, die mit Hilfe des virtuellen Heimtrainings für etwas Abwechslung sorgte. Die Idee: Man vernetzt sich mit anderen Sportlern und fährt während des Rollentrainings virtuell gemeinsam auf den Straßen. „Das gibt einem das Gefühl, nicht allein zu sein.“

Zeyen trainiert täglich zweimal, dazwischen arbeitet sie als Brand Managerin in Teilzeit beim International Paralympic Committee (IPC) und ist – wenn man so will – dem paralympischen Geist auf allen Ebenen verbunden. „Gerade in dieser Zeit ist es stressig, den Tag zu bewältigen und alles unter einen Hut zu bekommen“, sagt Zeyen, „aber es ist auch toll, nicht nur Athletin zu sein, sondern auch auf die andere Seite zu schauen und etwas zurückzugeben, was einem der Sport gibt.“

„Als Weltmeisterin fährt man nicht zu Paralympics, um nur dabei zu sein.“

Ihre jüngsten WM-Erfolge bestätigen die Athletin. Sie kehrte mit dem guten Gefühl aus Portugal zurück, in den zurückliegenden Monaten offensichtlich vieles richtig gemacht zu haben. In Tokio möchte sie noch eine Schippe drauflegen – zumal im Straßenrennen die Klassen H3 und H4 kombiniert um die gleiche Medaille fahren. Das macht es umso schwieriger. Und dennoch: Das Ziel ist klar. „Ich will mit einer Medaille heimkommen“, sagt die ehrgeizige Sportlerin. „Als Weltmeisterin fährt man nicht zu Paralympics, um nur dabei zu sein.“

Die 36-Jährige kann es kaum erwarten, die Straßen in Tokio unsicher zu machen. Wenn man so will, hat für Annika Zeyen mit dem Start bei den Weltmeisterschaften ihre Reise nach Japan bereits begonnen. Denn zu Hause in Hennef wird sie bis zur Eröffnung der Paralympics am 24. August kaum noch sein. Die Tage sind eng getaktet. Zwei Höhentrainingslager stehen noch auf dem Trainingsplan, von denen sie eines derzeit in St. Moritz absolviert. Anschließend versammelt Bundestrainer Tobias Bachsteffel sein Team dann zu einer knapp dreiwöchigen Einheit im italienischen Livigno – bevor sie schnurstracks in den Flieger Richtung Tokio steigt. „Das geht nun schlagartig“, sagt Zeyen, die nach ihrem WM-Triumph kaum Zeit zum Durchschnaufen hatte.

Für die Vorzeige-Athletin ist das ein positiver Stress. Endlich hat sie ihn wieder. Annika Zeyen, die seit einem Reitunfall 1999 querschnittgelähmt ist, liebt diese Anspannung und den Wettkampf. Viermal war sie schon bei Paralympics am Start, das erste Mal 2004 in Athen. In den Jahren danach hat sie fleißig Medaillen als Rollstuhlbasketballerin gesammelt – hat gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Von der deutschen Meisterschaft bis hin zur Goldmedaille 2012 in London und Silber 2016 in Rio. Danach machte sie Schluss, wechselte die Sportart, weil sie sich verändern und es als Individualsportlerin versuchen wollte. „Ich hatte den Wunsch nach mehr zeitlicher Flexibilität“, erläutert Zeyen.

Als Rollstuhlbasketballerin holte sie Paralympics-Gold, aber nie den WM-Titel – im Para Radsport gelang das bei der Premiere

Nach einem kurzen Abstecher in die Para Leichtathletik landete sie beim Handbiken und schaffte nach kurzer Zeit, was ihr im Rollstuhlbasketball verwehrt blieb: Weltmeisterin zu werden. Bei ihrer ersten WM feierte sie direkt den Titel. In Tokio will Annika Zeyen, die ihr Coach Alois Gmeiner als „absoluten Glücksfall“ für jeden Trainer bezeichnete, an ihre Erfolge anknüpfen. Sie ist voller Vorfreude und Euphorie und ihr Fokus ist vollständig auf diese Paralympics gerichtet, die für sie nicht nur wegen des Disziplinwechsels besondere Spiele sind. Diesmal soll nichts dazwischenkommen. Die Verschiebung der Spiele in Folge der Corona-Pandemie hat auch sie hart getroffen. Das warf die komplette Lebensplanung eines Jahres durcheinander. Gedanken an eine erneute Absage verschwendet sie daher keine. „Wobei ich mir auch nie hätte vorstellen können, dass jemals eine Situation eintritt, die eine Absage von Olympischen und Paralympischen Spielen nach sich zieht.“

Zeyen erinnert sich: Im März vergangenen Jahres reiste sie noch hoffnungsvoll ins Trainingslager nach Lanzarote, die Spiele 2020 sollten der Höhepunkt ihrer Saison werden. „Letztlich kamen wir gerade noch rechtzeitig wieder zurück nach Deutschland.“ Ihre Ausreise fiel mit dem Lockdown-Beginn in Spanien zusammen. Kurze Zeit später stand das sportliche Leben dann schlagartig überall still, ein Wettkampf nach dem anderen wurde abgesagt. Ihr Leben wurde auf den Kopf gestellt. Alles war auf das große Ziel ausgerichtet. Job, Training und auch das Familienleben. „Die Entscheidung war im ersten Moment hart und traurig, aber wir bekamen dadurch Planungssicherheit. Lange wussten wir nicht, ob wir nach Tokio kommen. Bis zur Absage hingen wir Sportler in der Luft. Man musste trainieren, hatte den Druck, in Form zu bleiben, aber kaum Möglichkeiten dazu.“

Zeyen nahm es sportlich: „Ich versuche immer das Beste aus jeder Situation zu machen. Das ist mir gut gelungen, denke ich.“ Die Handbikerin richtete sich zu Hause einen Fitnessraum ein und kam bei einem befreundeten Physiotherapeuten im Kraftraum der Praxis unter. „Die Coronazeit hat nochmal sehr deutlich gezeigt, wie wichtig ein gutes Team um einen herum ist“, sagt die 36-Jährige, die sich auch weiterhin als Teamsportlerin sieht, „eben, weil es ohne Unterstützung nicht geht. Im Herzen bin ich eben immer noch Mannschaftssportler“, entgegnet sie mit einem Augenzwinkern.

Zu ihrer „Mannschaft“, wie sie sagt, zählt Annika Zeyen auch ihre Familie und Freunde, die bei diesen Spielen erstmals nicht an ihrer Seite sind, um sie zu unterstützen. „Ich bin es gewohnt, dass sie dabei sind. Das wird sicher komisch. Leider wird aber vieles, auf was ich mich gefreut habe, nicht da sein“, betont Zeyen mit Blick auf das fehlende Deutsche Haus Paralympics, ihre Unterbringung an der Para Radsport-Wettkampfstätte außerhalb des Paralympischen Dorfes und das Fehlen bei der Eröffnungsfeier. „Das werden ganz sicher keine Paralympics wie sonst. Ich versuche mich daher auf das Positive zu fokussieren, auch wenn ich wehmütig bin. Aber die Spiele finden statt. Und letztlich ist der sportliche Wettkampf das, was zählt.“ Eine Medaille würde sicher für vieles entschädigen. Und ohne dieses kleine Extra-Gepäckstück, bekräftigt Annika Zeyen, möchte sie auch nicht die Heimreise antreten.

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